Scheinselbstständigkeit, einfach erklärt (Indizien / Kriterien)
(Wer, wo, wie und wann?)
Seit dem 1. April 2017 können Freiberufler aufgrund von gesetzlichen Änderungen relativ schnell als scheinselbstständig abgestempelt werden. Kurz gesagt: Wenn der Freiberufler im Kundenunternehmen trotz Dienst- oder Werkvertrag wie ein normaler Mitarbeiter arbeitet, kann es schlagartig ein klassisches Arbeitsverhältnis werden. Der Freiberufler ist damit nicht mehr frei, sondern scheinselbstständig.
Aus Sicht der Deutschen Rentenversicherung gehört der Freiberufler auf die Gehaltsliste des Kundenunternehmens. Durch die nachträglich fälligen Sozialabgaben und Strafzahlungen wird das richtig teuer! So lässt sich der Status bewerten:
GEWICHTETE INDIZIEN FÜR EINE SCHEINSELBSTSTÄNDIGKEIT IN 2020
Fakt [1]
Wenn der Auftraggeber dem Freiberufler vorgibt, wann, wo und wie er zu arbeiten hat, die Leistung letztendlich vom Auftraggeber koordiniert wird.
Fakt [2]
Kritisch ist außerdem, wenn Freiberufler in gemischten Teams arbeiten und die gleichen Tätigkeiten übernehmen wie fest angestellte Mitarbeiter im Kundenunternehmen.
Fakt [3]
Erhält der Freiberufler garantiert sein Geld, unabhängig davon, wie gut seine Arbeit war, und trägt der Freiberufler auch kein Haftungsrisiko, sind dies ebenfalls belastende Indizien für eine Scheinselbstständigkeit.
Fakt [4]
Stellt der Freiberufler eine Rechnung an einen Vermittler oder Subunternehmer, und dieser wiederum eine Rechnung an das Kundenunternehmen, so entsteht neben der Scheinselbstständigkeit womöglich der Umstand der verdeckten Arbeitnehmerüberlassung.
FOLGEN EINER SCHEINSELBSTSTÄNDIGKEIT IN 2020
Für den Vermittler oder Subunternehmer können hohe Strafzahlung entstehen, aber richtig hart trifft es das Kundenunternehmen, da dieses unter Umständen die Strafzahlungen und die Beiträge zur Sozialversicherung rückwirkend leisten muss, obwohl dieser gar keinen Vertrag mit dem Freiberufler geschlossen hat.
Vermittler oder Subunternehmer, Freiberufler und Kundenunternehmen können aber die Risiken der
Scheinselbstständigkeit vermeiden und die Gefahren der verdeckten Arbeitnehmerüberlassung effektiv beseitigen.
WINDIGE KONSTRUKTE SIND EXISTENZBEDROHLICH
Als Faustregel lässt sich folgendes sagen: Honorarkräfte und Freiberufler sind nach dem Gesetz auch dann scheinselbstständig tätig, wenn die Leistungen über einen Dienstvertrag oder einen Werkvertrag geregelt sind aber mit genauer Betrachtung praktisch einen arbeitnehmerähnliche Beschäftigung ausgeübt wird. Windige Konstrukte lohnen sich seit April 2017 nicht mehr und führen spätestens seit Juni 2019 (BSG-Urteile) sogar mit Vorsatz in eine Scheinselbstständigkeit!
Was kostet Scheinselbstständigkeit?
Welcher Schaden entsteht bei Scheinselbständigkeit?
Was hat der Auftraggeber in Zahlen zu erwarten und welche Aufwände/Kosten entstehen?
So läuft es in der Praxis: Der Auftraggeber denkt, dass er für das Projekt einen Selbständigen beauftragt. Im Zuge der Beauftragung zahlt dieser dem Auftragnehmer ein vertraglich geregeltes Honorar. Damit, so glaubt der Kunde / Auftraggeber, ist die Angelegenheit erledigt. Jahre später kommt die Rentenversicherung und sagt: Das war seinerzeit kein Selbstständiger, sondern ein Angestellter. Jetzt passiert Folgendes: Der Auftraggeber muss für den betroffenen Mitarbeiter, der jetzt nicht mehr selbständig, sondern fester Angestellter ist, die volle Höhe der Sozialabgaben nachzahlen. Wir sprechen hier vom Arbeitgeberanteil und Arbeitnehmeranteil. Die Summe beläuft sich auf etwa 40% der Honorarsumme. Kommen wir zu einer Beispielsrechnung:
Fakten | Beispiel
Typ: Freiberufler
Vertrag: Werk- oder Dienstleistungsvertrag
Vertragslaufzeit: 18 Monate
Auslastung: Vollzeit (160 Std. / Monat)
Stundensatz: 75,- Euro
Für dieses Rechenbeispiel nehmen wir an, dass der Selbständige für 18 Monate beauftragt wurde. Der Stundensatz belief sich damals auf 75,- Euro. Bei einer Vollzeitauslastung (160 Std. je Monat) wurden dem Auftraggeber monatlich 12.000,- Euro / Netto in Rechnung gestellt. Die Honorarrechnung wurden vom Kunden / Auftraggeber freigegeben und beglichen.
(1) Jetzt muss der Kunde nach dem Gesetz (Scheinselbstständigkeit) für jeden Monat noch einmal 40% auf die 12.000,- Euro nachzahlen. Folglich muss der Projekt-Auftraggeber für jeden Einzelfall und für die gesamte Laufzeit des Auftrags eine Nachzahlung in Höhe von 4.800,- Euro pro Monat leisten. Für diese eine Beauftragung (Freiberufler = 18 Monate Projekt) entsteht nun eine Nachforderung / ein Schaden in Höhe von 86.400,- Euro.
(2) Damit nicht genug. Die Nachzahlung wird für ein volles Jahr mit sage und schreibe 12% verzinst. Der Auftrag wurde für 18 Monate geschlossen und daher entstehen hier weitere 10.368,- Euro an Strafzinsen für den Auftraggeber / Kunden.
Damit haben wir bisher für dieses Beispiel eine Schadenssumme in Höhe von 96.768 Euro. Das ist aber leider auch nur ein Zwischenstand. Weiter geht’s.
(3) Bedauerlicherweise ist das nicht alles. Werden die Beiträge zur Sozialversicherung - in unserem Beispiel wegen Scheinselbstständigkeit - nachgefordert, wenden die Sozialversicherungsträger (SV-Träger) regelmäßig die sogenannte Nettolohnfiktion an. Was heißt Nettolohnfiktion? Hintergrund: Bei Scheinselbständigkeit liegt sozusagen immer ein illegales Beschäftigungsverhältnis vor, weil z.B. der Freiberufler seine Projektarbeit nicht als Selbständiger, aber als sozialversicherungspflichtiger Angestellter des Auftraggebers leistet bzw. leistete. Das ist vor dem Gesetz eindeutig illegal. Deswegen gehen die Sozialversicherungsträger regelmäßig von einer Nettolohnvereinbarung aus. Und jetzt kommt die sog. „fiktive Nettolohnvereinbarung“ in Anwendung.
Das Gesetz unterstellt z.B. bei Scheinselbstständigkeit, dass der Kunde/Auftraggeber und Auftragnehmer (z.B. Freiberufler/Freelancer) eine Nettolohnvereinbarung getroffen haben. Weil die Scheinselbstständigkeit sich vor dem Gesetz um eine illegale Form der Beschäftigung handelt und die erforderlichen Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung „zwangsläufig“ nicht ordnungsgemäß gezahlt wurden, gilt ein Nettoarbeitsentgelt als vereinbart. Das bedeutet, dass die gezahlten Honorare für z.B. Freiberufler sozusagen als Schwarzgeld ausgelegt und damit wie ein Nettoarbeitsentgelt behandelt werden. Was also bedeutet Nettoarbeitsentgelt in Bezug auf die Scheinselbstständigkeit? Wird also die Nettolohnfiktion angewendet, so wird der vom Auftraggeber ausgezahlte Betrag einschließlich 19% Umsatzsteuer als Nettolohn des Selbständigen behandelt.
Windige Konstrukte als Pyrrhussieg
Die Gesetzeslage lässt auch heute in 2020 keinen Spielraum für Personalkonzepte zur Verschleierung dubioser Auftrags- und Beschäftigungsverhältnisse. Die tatsächliche Projektabwicklung (Gestaltung und Ausführung von Auftragstätigkeiten durch feste und freie Mitarbeiter) bildet die elementare Faktenbasis für Behörden, Prüf- und Rechtsorgane sowie die Gerichtsbarkeit in Deutschland. Eine qualifizierte Bewertung der Auftrags- und Projektsituation im Hinblick auf das Bestehen oder Nichtbestehen von Scheinselbstständigkeit, ist die echte Arbeitsweise in Projekten für Honorarkräfte (Aufträge für freie Mitarbeiter). Lösungen zur Umgehung gesetzlicher Bestimmungen führen zu einer zeitlich nach hinten verlagerten Problemstellung, jedoch mit deutlich höheren Konsequenzen für Auftraggeber, Projektunternehmen und Endkunden. Konstruktionen mit Täuschungsabsicht sind keine tragbaren Lösungsansätze aber ein klarer Pyrrhussieg. Was ist ein Pyrrhussieg bei Scheinselbstständigkeit? Lesen sie weiter!
SCHEINSELBSTÄNDIGKEIT IM PROJEKT FÜHRT ZUM ERFOLG MIT MISSERFOLG
Bei einem Pyrrhussieg - auch Pürussieg oder Pyrus-Sieg genannt - geht es um den Erfolg einer Sache, dessen Einsatz viel zu hoch ist. Einfach gesagt: Der Pyrrhussieg ist ein mit Sicherheit zu teuer erkaufter Erfolg z. B. beliebiger Projekte! Das isolierte Projektergebnis mag daher zunächst positiv ausfallen. Jedoch ergeben sich für den Kunden keine echten Vorteile, da eine Prüfung den Tatbestand der Scheinselbstständigkeit im Nachgang aufdeckt und damit das Gesamtergebnis für das Projekt- und Kundenunternehmen einen wirtschaftlichen Misserfolg mit langwierigen Eskalationen darstellt. Systeme zur Verschleierung von Scheinselbstständigkeit im Projekt mit Freiberuflern (Freelancer/Fremdpersonal) führen möglicherweise im ersten Blick zu einem Etappensieg. Es ist aber genauso wie König Pyrrhus vor etwa 2000 Jahren sagte: "Wenn wir die Römer in einer weiteren Schlacht besiegen, werden wir gänzlich verloren sein!" Seine / diese uralte Aussage trifft den Nagel auf den Kopf und ist für dieses Thema eine ernstzunehmende Warnung. Sie verdeutlicht die folgenschweren Auswirkungen einer wiederholten Rechtsverletzung bei dem Versuch Scheinselbstständigkeit im Projekt zu verdecken. De facto gibt es bei einem wiederholten Rechtsverstoß nur den Vorsatz als Konsequenz. Wichtig: Unser Rechtssystem bietet keine Tolleranz für vorsätzliches Handeln und führt ohne Umwege zur juristisch schärfsten Urteilsfindung. Wo also liegt die Sinnhaftigkeit, wenn Vorsatz, und dazu zählt auch der bedingter Vorsatz, dass finale Endergebnis für Unternehmen und Projektgeber darstellt? Methoden dieser Art führen unweigerlich zu einer Mutation der Beschäftigungslage. So wandelt sich zum Beispiel der Werkvertrag in einen Scheinwerkvertrag und eine echte Selbstständigkeit in eine projektgestützte Scheinselbständigkeit. Die Beauftragung unterliegt einer Metamorphose, da ein scheinbar legales System stetig zu einem illegalen System heranwächst. Es liegt in der Natur der Sache, denn das Wahre ist bekanntlich das Ganze. Die Scheinselbständigkeit hat einen Lebenszyklus und dieser wird über den Pyrrhus-Sieg auf den wesentlichen Nenner gebracht. Demzufolge ist der schnelle Erfolg im Projekt nur ein vorläufiges Ergebnis für Kunden und freie Mitarbeiter. Die Zeit ist ein auf ewig lebender Gegenspieler, da eine Neubewertung der Sachlage (Projektauftrag und Statusprüfung) auch Jahre später erfolgen kann und final zu einem messbaren Misserfolg für das Kundenunternehmen führt, jedoch mit bedrohlichem Charakter. VIDEO SCHEINSELBSTÄNDIGKEIT (jetzt ansehen)
Was heißt Scheinselbstständigkeit auf Englisch
Der Wort Scheinselbstständigkeit wird nicht automatisch von allen englischsprachigen Mitbürgern verstanden, da dieser Begriff im Alltagsleben selten genutzt wird und damit auch nicht zum Standard-Wortschatz innerhalb der breiten Masse zählt. Zudem ist dieses Rechtsthema nicht überall auf der Welt so brisant wie in Deutschland. Der Begriff Scheinselbstständigkeit kann unter anderem mit BOGUS SELF-EMPLOYMENT, FALSE SELF-EMPLOYMENT oder PSEUDO SELF-EMPLOYMENT übersetzt werden (Anlehnung an Selbstständige). Die grundsätzliche, also generische Bezeichnung SCHEINSELBSTSTÄNDIGKEIT wird im Englischen vorzugsweise mit FICTITIOUS EMPLOYMENT oder DISGUISED EMPLOYMENT übersetzt, so haben es unsere Geschäftspartner aus England und den Niederlande bestätigt.
Gibt es Lösungen für Scheinselbstständigkeit?
Projekt-Scheinselbstständigkeit kann verhindert werden! Zuvor müssen sich Kunden und Auftraggeber fragen, ob sie eine kurzfristige oder strategisch nachhaltige Lösung zur Vermeidung von Scheinselbständigkeit bevorzugen. Letzteres kann über drei Wege erreicht werden:
Weg 1 : Der Freiberufler / Freelancer geht in eine feste Anstellung und gibt das Wesen des freien Unternehmertums auf. Genau dieser Umstand soll ja verhindert werden...
Weg 2 : Der Freelancer / externe Mitarbeiter geht in das Projekt und bedient dazu einen lupenreinen in der Praxis gelebten Werk- oder Dienstvertrag. Wichtiger Hinweis: Genau hier liegt die Komplexität, da alle nach dem aktuellen Gesetz erforderlichen Bedingungen für Pro & Contra (also nach dem Go/NoGo Prinzip) erfüllt werden müssen! Unser Tipp: Sie sollten sich für die Scheinselbstständigkeitsfrage einen Lösungspartner suchen, der das Vorhaben sehr praxisnah begleitet und die Lösung nicht nur aus der Distanz heraus konzipiert. Beschränken sie ihre Bemühungen ausdrücklich nicht nur auf die Vertragsgestaltung. Nicht vergessen, eine substantielle Lösung fokussiert die Arbeitspraxis und hierzu benötigen sie praxiserfahrene Profis und nicht nur Theoretiker. Was nicht geht, wird mit Leichtigkeit und für gutes Geld aufgezeigt. Vielmehr geht es um optimierte Lösungsansätze und der Frage, was konkret funktioniert und wie es im Unternehmen bzw. im Projekt umgesetzt werden kann.
Weg 3 : Kunden und/oder Freiberufler nutzen die Arbeitnehmerüberlassung um sich im Projekt rechtlich 100% legal aufzustellen, ggf. ohne die laufenden Prozesse zu verändern. Hinweis: Wir glauben nicht, dass die Standard-ANÜ-Methode funktionieren wird für Freelancer. Daher haben wir eine Alternative entwickelt.
Wichtige Urteile zur Scheinselbstständigkeit
Die Projektwirtschaft in Deutschland schreit mehr denn je nach Transparenz und Klarheit im Umgang mit der Art und Weise einer honorargestützten Beauftragung von Freelancern um auch in 2020 Scheinselbstständigkeit zu vermeiden. Wie kann Rechtssicherheit geschaffen und Rechtsunsicherheit vermieden werden? Im Umgang mit der Frage nach Selbstständigkeit bzw. Scheinselbstständigkeit stehen in 2020 Auftragnehmer und vor allem Auftraggeber im Fokus der Prüf- und Rechtsorgane. Der deutsche Freelancer Markt - z.B. Freiberufler und Honorarkräfte im allgemeinen - befindet sich im Hinblick auf die sozialrechtliche Fragestellung eindeutig im Wandel. Es stellt sich als große Herausforderung dar, Honorarkräfte, freie Mitarbeiter und Freiberufler im Projekt rechtssicher einzusetzen bzw. rechtlich einwandfrei zu beauftragen.
In der Realität haben Betroffene, Anwälte und Gerichte oft eine unterschiedliche Rechtsauffassung. Das liegt an der offenen Ausgestaltung von Gesetzestexten, die zwar einen verbindlichen Handlungsrahmen abstecken aber dennoch in sich offen formuliert wurden um den betroffenen Parteien (Stakeholdern) "etwas" Flexibilität einzuräumen. Gesetze entfalten daher ihre Wirkung über die Gerichte als judikative Instanz. Unsere Rechtsprechnung in Deutschland erfolgt über EU- und deutsche Gerichte. Dazu gehören Amtsgerichte, Landesgerichte, Oberlandesgerichte und die Bundesgerichte. Sie verkörpern die höchste Instanz der deutschen Rechtsprechung, sind richtungsweisend und haben eine bedeutende Signalwirkung. Im Kontex zur sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung respektive zur Scheinselbstständigkeit verweisen wir auf die folgenden vom höchsten Gericht ausgesprochenen Urteile:
Aktuelle Urteile 2019
Wichtige Urteile 2018 & 1017
Höchstrichterliches Urteil Bundessozialgericht · 14.03.2018
BSG Aktenzeichen B 12 KR 13/17 R
Rechtsfall: GmbH-Geschäftsführer als Minderheitsgesellschafter bleiben sozialversicherungspflichtig
Prozessdauer: ca 2,3 Jahre (24.06.2015 bis 14.03.2018)
Höchstrichterliches Urteil Bundessozialgericht · 14.03.2018
BSG Aktenzeichen B 12 R 5/16 R
Rechtsfall: Geschäftsführer einer GmbH sind regelmäßig sozialversicherungspflichtig
Prozessdauer: ca 2,1 Jahre (24.02.2016 bis 14.03.2018)
Höchstrichterliches Urteil Bundessozialgericht · 14.03.2018
BSG Aktenzeichen B 12 R 3/17 R
Rechtsfall: Beachtung eines Lehrplanwerks macht Lehrkräfte nicht automatisch sozialversicherungspflichtig
Prozessdauer: ca 3,5 Jahre (15.07.2014 bis 14.03.2018)
Höchstrichterliches Urteil Bundessozialgericht · 31.03.2017
BSG Aktenzeichen B 12 R 7/15 R
Rechtsfall: Honorarhöhe ist ein gewichtetes Indiz gegen Scheinselbstständigkeit
Prozessdauer: ca 3,5 Jahre (11.09.2013 bis 31.03.2017)
Wichtige Gesetze zur Scheinselbstständigkeit
Auch wenn es sich bei der Scheinselbstständigkeit zunächst um einen einfachen und inzwischen geläufigen Ausdruck handelt, so versteckt sich dahinter eine sehr komplexe Rechts- und Gesetzesstruktur, die die unmittelbare und vollständige Auftragspraxis in der Beurteilung einbezieht. Daher gibt es für die Scheinselbstständigkeitsfrage kein eigenes Gesetz. Die rechtliche Beurteilung stützt sich auf viele Gesetze wie z.B.:
» BGB (Bürgerliche Besetzbuch)
» AÜG (Arbeitnehmerüberlassungsgesetz)
» SGB (Sozialgesetzbuch)
» ArbG (Arbeitsgesetz)
» SGG (Sozialgerichtsgesetz)
» StGB (Strafgesetzbuch)
Für den klassischen Streitfall bei Scheinselbständigkeit finden auszugsweise die folgenden Gesetze und Paragraphen Anwendung:
§ 611a BGB
Hier wird der Arbeitnehmerbegriff gesetzlich legaldefiniert. Frage: Wer ist Arbeitnehmer? Man achte auch auf den letzten Satz aus Absatz 1: „Zeigt die tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses, dass es sich um ein Arbeitsverhältnis handelt, kommt es auf die Bezeichnung im Vertrag nicht an.“
§ 7 Abs. 1 SGB IV
Hier wird die Beschäftigung als solches gesetzlich geregelt. Abgrenzung zwischen selbstständiger Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung. Frage: Wer arbeitet selbständig und wer ist sozialversicherungspflichtig beschäftigt?
Ist eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit das Gleiche wie ein Arbeitsverhältnis? Nein, es geht um die Sozialversicherungspflicht einer Tätigkeit und nicht um eine Arbeitnehmerschaft, die begründet sich im Zuge der Scheinselbstständigkeit erst dann, wenn der Freiberufler diesen Anspruch einklagt.
§ 9 AÜG & & 10 AÜG
Hier werden die Umstände einer Unwirksamkeit sowie die sich daraus ergebenen Rechtsfolgen aus einer Unwirksamkeit des Vertrags geregelt.
§ 28e SGB IV
Hier wird die Gesamtschuldnerische Haftung geregelt. Frage: Wer haftet im Falle einer Scheinselbstständigkeit gegenüber der DRV? Wurde eine scheinselbstständige Beschäftigung attestiert, so haftet der Auftraggeber / Kunde auch dann für die offenen Forderungen, wenn der vermeintliche freie Mitarbeiter über einen Vermittler zum Endkunden (Auftraggeber) kam. Der Auftragnehmer wird nach dem Gesetz wie ein Arbeitnehmer des Auftraggebers gesehen und damit tritt der Auftraggeber (Endkunde=) für die relevanten Sanktionen und gesetzlichen Ansprüche direkt ein.
§ 86a SGG
Hier wird u.a. geregelt, dass die aus einer Scheinselbständigkeit sich ergebenen Beitragsforderungen und Säumniszuschläge im Regelfall sofort fällig werden. Frage: Müssen Forderungen der DRV sofort ausgeglichen werden?
§ 24 SGB IV
Hier sind die Säumniszuschläge gesetzlich geregelt. Frage: Werden die offenen Forderungen bei Scheinselbstständigkeit verzinst? Kurz gesagt: Beitragsforderungen werden jährlich mit 12% verzinst.
§ 266a StGB
Hier wird geregelt welche strafrechtlichen Konsequenzen zu erwarten sind, wenn die Beiträge bewusst oder unbewusst vorenthalten wurden. Frage: Mit welchen Strafen muss der Auftraggeber bzw. der Geschäftsführer rechnen, wenn die Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge vorenthalten und/oder veruntreut wurden? Das Gesetz sieht hier eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder eine Geldstrafe vor.
§ 814 BGB
Hier wird der Anspruch auf Rückerstattung bei Überzahlung geregelt. Frage: Wenn Auftraggeber / Arbeitgeber zu viel Geld überwiesen haben (z.B. Gehalt / Honorar), müssen Arbeitnehmer / Freiberufler diesen Mehrbetrag / die Überzahlung zurückzahlen? Nach dem Gesetz haben Auftraggeber / Arbeitgeber hier die schlechteren Karten. Den Rückzahlungen müssen nur dann erfolgen, wenn zum Zeitpunkt der Rückforderung genug Vermögen vorliegt. Daher wird vorzugsweise der § 814 BGB über den Entreicherungsparagraph entkräftet.
Politischer Hintergrund zur Arbeitsmarkt Reformierung
Gründe warum die Politik mit aller Härte in den Arbeitsmarkt eingreift: Der Arbeitsmarkt befindet sich in einem bedeutenden Umbruch. Welchen Hintergrund gibt es zur politischen Entscheidung, den Arbeitnehmer- und/oder Beschäftigungsstatus in Bezug auf die Beitrags- und Sozialversicherungspflicht für Mitarbeiter zu reglementieren? Warum steht Scheinselbstständigkeit im Vordergrund? Warum wird das freie Unternehmertum bzw. das Berufsbild des Freiberuflers so streng geregelt? Diese Fragen sind in Bezug auf selbstständige Beschäftigungsformen und den scheinselbstständigen Beschäftigungsstatus hoch aktuell.
Zum Hintergrund zeigen wir ein bedeutendes Argument auf: Deutschland glänz auf internationalem Parkett u.a. durch die umfangreiche soziale Absicherung für dessen Bürgerinnen und Bürger – auch im Alter. Und hier kommen wir zum ersten sehr entscheidenden Argument, warum die Bundesregierung das Contractor Modell / das freie Unternehmertum und das Freelancing an die reguläre Arbeitswelt angelehnt.
Rentenkoller 2030
Mit Blick auf das Alter wird von offizieller Seite statistisch bestätigt, dass unser beständiges deutsches Rentensystem in 2030 kollabiert. Wir sprechen hier von wenigen Jahren! Daher ist ein drastisches Handeln erforderlich. Im Jahr 2030, also in ca. 10 Jahren ist es so, dass ein Beitragszahler nur genau einen Rentner finanziert. Wie soll das gehen? Stand Juli 2019 stehen 100 Beitragszahler etwa 60 Rentnern gegenüber.
Zwei Fragen für zwischendurch: Wer schultert die immer größer werdenden Lasten künftiger Generationen? Wie kann die Versorgung im Ruhestand gesichert werden?
Bedauerlicherweise gibt es nur beschränkte Anzahl an Schrauben, an denen man drehen kann. Wir verweisen auf drei Schrauben:
Schraube 1 | Die arbeitnehmer- und arbeitgeberseitigen Beitragssätze müssten für alle fortan drastisch erhöht werden, wobei u.a. die selbstständigen Ein-Mann-Dienstleister nach gewohnten Methoden ihrer beruflichen Profession nachgehen. Inwieweit dies im Sinne aller Beteiligten langfristig tragbar und gerecht ist, kann jeder für sich selber beurteilen.
Schraube 2 | Die Rentenempfänger erhalten deutlich weniger Absicherung im Alter. Dafür bleiben weiterhin z.B. alle Honorarkräfte und Freelancer von der Teilnahme am Gemeinwohl unberücksichtigt und die etwa 40 Millionen sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer zahlen sozusagen für alle, aber im selben Verhältnis wie bisher. Natürlich kann das so nicht ganz sein, da die Altersstruktur in Deutschland schleichend zunimmt und die Geburtenraten leider abnehmen. Auch diesen Ansatz kann jeder für sich bewerten.
Schraube 3 | Die Arbeitnehmerschaft in Deutschland wird ausreichend belastet. Der Staat konzentriert sich auf zusätzliche Leistungsbereiche die einen geschäftsmäßigen Hintergrund verfolgen. Neue Berufsgruppen / Berufszweige werden Schritt für Schritt an das bestehende Versorgungssystem angehängt um den deutschen Sozialstaat zu erhalten und nachhaltig zu festigen. Hier kommen z.B. die Projektwirtschaft und die Freiberufler ins Visier. Eine Bewertung kann jeder selber vornehmen.
Scheinselbständigkeit ist ein echter Bilanz Killer
Zu den Folgen einer Scheinselbstständigkeit wird viel geschrieben. Jeder glaubt ausreichend zu wissen und dennoch dominieren nach wie vor Gerüchte, Hörensagen und gefährliche Halbwahrheiten. Die Scheinselbstständigkeit berührt nicht nur das Außenverhältnis und damit die Stakeholder im geschäftlichen Umfeld. Zur Geschäftskette zählen im wesentlichen Freelancer, Kunden und Vermittler gleichermaßen.
Wer nun wirklich verstanden hat, dass
a) die Scheinselbständigkeit tatsächlich auf das Tagesgeschäft einwirkt und das reale Projektgeschehen unmittelbar beeinflusst und
b) keine totzuschweigende Nebensächlichkeit im Unternehmertum darstellt, sondern allgegenwärtig und ganz sicher für eine lange Zeit bestehen bleibt,
der sollte nicht vergessen den Blick auf die eigenen Bücher zu richten. Denn jetzt geht es um den Einfluss von Scheinselbstständigkeit auf die Bilanz von Unternehmen und Gesellschaften. Wer seine Hausaufgaben auf dem Papier nicht ordnungsgemäß macht, verspielt seine Glaubwürdigkeit im Hinblick auf zahlenmäßige Fakten und kann als Folge die Firmenbilanz in Gänze vernichten.
Was hat Scheinselbstständigkeit mit Bilanzen zu tun? Was sollten Sie beachten, wenn Sie mir externen Mitarbeitern / Freiberuflern zusammenarbeiten?
Kurze Erinnerung: Seit 2017 hat sich die Gesetzeslage in Deutschland in Bezug auf das Arbeiten mit Freiberuflern bzw. externen Mitarbeitern drastisch verschärft. Nachdem der Markt nun einige Jahre auf eine politische Kurskorrektur hoffte und sehr viel Lobbyarbeit leistete, scheint dieser Zug nun wenigstens für eine lange Zeit abgefahren. Warum ist der Zug abgefahren? Ganz einfach, die höchsten Gerichte unseres Landes haben Ende 2018 und vor allem Mitte 2019 sehr bedeutende Urteile gesprochen, die zum einen tatsächlich mehr Klarheit zur Bewertung von Scheinselbstständigkeit liefern und zudem das sozialversicherungsrechtliche Strafmaß direkt an das Strafrecht anlehnen. So wurde z. B. ein Geschäftsführer zu 1,5 Jahren verdonnert. Wieder zurück zum Bilanzvernichter...
Bilanzen sind das zahlenmäßige Auge und die elementare Bewertungsgrundlage für Investoren, Banken sowie für den M & A Markt (Käufe und Verkäufe von Unternehmen und Unternehmensteile). Wer Freiberufler beauftragt, führt diesen Kostentreiber in der Regel über das Geschäftskonto "Beauftragung externer Dienstleister". Der Einsatz von Freelancern (Freiberufler erhalten honorarbasierte Leistungsabrechnung) kann oftmals die Bildung von Rückstellungen erforderlich machen, da die neue Rechtsprechung sowie aktuelle Gesetzeslage für diese Beschäftigungsform (Beauftragung via Werk- oder Dienstleistungsvertrag) den grundsätzlichen Verdacht auf Scheinselbstständigkeit nahelegt. Dies rührt daher, dass die Merkmale vertraglich zwar ausgearbeitet werden, leider aber in der Praxis nicht lückenlos umgesetzt und vor allem nicht eingehalten werden (Go-NoGo-Prinzip).
Die ab 2017 hergeleitete und erweiterte Behördenkompetenz für die Rentenversicherung (DRV Bund), den Zoll und das Finanzamt sowie das bereits etablierte digitale Transparenzabkommen zwischen Steuerberater und dem Finanzamt, liefern den deutschen Prüforganen oft schon vor einer Detailprüfung eine substantielle Faktenbasis. Der Spielraum wird immer kleiner und wer versucht den Umstand einer vermeidlichen Scheinselbständigkeit zu verschleiern, der spielt mit dem Tatbestand einer vorsätzlichen Täuschung / Handlung, die den Schadensumfang dramatisch – bis zum Straftatbestand – ausweitet.
Für den Aspekt „Bilanzkiller“ gibt es eine sehr wichtige Perspektive. Wenn das betroffene Unternehmen die Einnahmen und Ausgaben bilanziert, so sollte es aus bilanzieller Sicht natürlich auch den Umstand erfassen, dass der projektbezogene Selbstständigenstatus von Auftragnehmern (also externer Mitarbeiter) rückwirkend enthoben werden kann und damit wenigstens die Aufwände zur Beitrags- und Sozialversicherungspflicht (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile) anfallen. Das ist heutzutage durchaus realistisch.
Hinzu kommen Strafzinsen in Höhe von 12% p.a. sowie die Prozess- und Beratungskosten zur Klärung / Anfechtung. Wenn die Behörden auf die Maßnahme einer fiktiven Lohnabrechnung (Phantomlohn) zurückgreifen, so können über den Daumen gepeilt, die in Rechnung gestellten Honorarbeträge (Wichtig: Nicht die Nettosumme, sondern die Bruttosumme) in etwa 1:1 als Nachzahlung berechnet werden. Zudem darf nicht vergessen werden, dass zwangsläufig Kosten für die Rückabwicklung anfallen und produktive Arbeitszeit wegfällt.
Im Falle scheinselbstständiger Beschäftigung wurde rechtlich gesehen unrechtmäßig Vorsteuer geltend gemacht. Als Nebeneffekt gilt zu beachten, dass die Rechnungsstellung ebenfalls illegal erfolgte und damit die bilanzierte Einnahmen-Kostenstruktur unstimmig bis falsch ist. Da auch der Freiberufler im Schadensfall mit mindestens 3 Monaten einsteht und es den Umstand der gesamtschuldnerischen Haftung gibt, so kann der Fall eintreten, dass der Auftraggeber resp. das geschädigte Unternehmen womöglich für den Gesamtschaden in Vorleistung treten muss und die relevanten Beträge als nächsten Schritt z.B. beim Freelancer einklagen darf. Auch dies gilt es zu berücksichtigen.
Dieser doch so einfache Ausdruck „Scheinselbstständigkeit“ zieht einen bedrohlichen Rattenschwanz an Konsequenzen mit sich. Im Übrigen sind die Außenstände (Rückständigen Abgaben) nach dem Gesetz in einer Summe und unverzüglich auszugleichen.
Scheinselbstständigkeit gleicht aber auch aus einem weiteren Grund einer Atombombe für die Bilanz. Die zuvor genannten potentiellen Forderungen sind in der Bilanz als ungewisse Verbindlichkeiten zu deklarieren. Vom Grundsatz her müssen Rückstellungen gebildet werden, um den Beteiligten eine transparente, nachvollziehbare und glaubwürdige Zahlenstruktur zu präsentieren. Der Gesetzgeber möchte den Betrachtern einer Bilanz ein möglichst realistisches Bild zusichern und das geht nur dann, wenn die wahren Geschäftsbedingungen in die Bilanz einfließen. Trifft dies nicht zu, so kann dies nach § 256 AktG - z.B. durch Über- oder Unterbewertung - zur vollständigen Nichtigkeit der Bilanz führen. Als weitere Folge kann nach § 331 HGB sogar der Bilanzbetrug hergeleitet werden. Dies hätte dann strafrechtliche Konsequenzen für die Verantwortlichen. Wie hoch die Rückstellungen gebildet werden müssen, steht in § 253 Absatz 1 S.2 HGB geschrieben.
Die bloße Annahme über die Möglichkeit zur Entstehung von Statuskorrekturen bei freiberuflichen Honorarkräften erfordert rechtlich betrachtet noch keine Maßnahmen zur Bildung von Rückstellungen. Sollte aber anhand von Einzelfallprüfungen z. B. bei Stichproben durch die interne Revision oder das Compliance Management klare Indizien für scheinselbstständige Arbeit bzw. Beschäftigungsverhältnisse vorliegen, sind per Gesetz Rückstellungen in einer Bilanz anzusetzen.
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